Che Guevara – die ersten Jahre

Unveröffentlichte Bilder aus den Jahren 1959 bis 1964

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Lernender und lehrender Revolutionär

Ein Bildband mit bisher unveröffentlichten Fotos zeigt Che Guevara von einer bisher wenig beleuchteten Seite.

Ernesto Guevara, Kampfname »Che«, ist nicht nur eine Ikone des antikolonialen Kampfes. Bis heute gilt er auch antikapitalistischen Bewegungen weltweit als Leitfigur und Hoffnungsträger. Anlässlich des 50. Jahrestages seiner Ermordung am 9. Oktober 1967 veröffentlicht die Freundschaftsvereinigung Schweiz-Cuba aus Zürich in Kooperation mit der Zeitung der Kommunistischen Partei Kubas »Granma« ein Buch mit bislang unveröffentlichten Fotos des Revolutionärs. Begleitend ist im September in zwölf Schweizer Städten eine Ausstellung unter dem Titel »I Che vive! «angelaufen. M&R sprach mit dem Herausgeber des Bildbandes, René Lechleiter, über die Entstehung des Projekts, den wahren Che Guevara und seine politische Bedeutung für die Gegenwart.

Muss die Geschichte des großen Revolutionärs mit der Veröffentlichung Ihres Buches neu geschrieben werden?
Nun, ganz neu vielleicht nicht, aber mit der Fotoausstellung und dem begleitenden Buch zeigen wir in der Tat einen Che Guevara, der bisher kaum bekannt ist. Wir haben 1200 Bilder ausgewertet, die bis dato im Archiv der Granma lagerten und aus Beständen mehrerer kubanischer Zeitungen der Jahre 1959 bis 1964 stammen. Daraus haben wir rund 60 Fotos ausgewählt, digitalisiert und nachbearbeitet. Der Kunstkritiker Guido Magnaguagno, der zum Bildband einen Essay beigesteuert hat, kommt tatsächlich zu dem Schluss, dass danach zumindest die kubanische Fotogeschichte dieser ersten Jahre neu geschrieben werden müsste.

Die berühmtesten Bilder Che Guevaras, wie etwa das ikonische »Guerrillero Heroico« von Alberto Korda, zeigen einen entschlossenen Staatsmann und heldenhaften Kämpfer. Wen zeigen Ihre Bilder?
Zu sehen ist Che bei der Fortsetzung des Kampfes mit anderen Mitteln. Also nicht der Guerillero im Krieg gegen die Diktatur, sondern Che in der Aufbauphase des Sozialismus, der sich sehr zurücknimmt und bescheiden auftritt. Viele Bilder zeigen ihn mit Menschen an der Basis, im schlichten olivgrünen Anzug ohne irgendwelche Rangabzeichen. Die Fotografen berichteten, dass er sich bei der Arbeit nie in den Vordergrund drängte und stets die zu bewältigende Aufgabe voranstellte – insbesondere bei den freiwilligen Einsätzen am Wochenende, wo er selber bei der schwersten Arbeit mit anpackte. Erst danach war er bereit, den Journalisten ein Interview zu geben. Natürlich tat er all das als Minister und Anführer einer Revolution, aber auf den Fotos wird deutlich, wie menschlich und empathisch er dabei blieb. In den Bildern spiegelt sich seine immense politische Überzeugungskraft wider. Daneben war er jemand, der sich viel mit Mathematik, Ökonomie, Statistik und Gesellschaftswissenschaften beschäftigte, um sich weiterzubilden und seinen Herausforderungen gerecht zu werden – ein Lernender und Lehrender sozusagen.
Übrigens: Vor Kurzem hat Juan Martin Guevara, Ches Bruder, eine Biografie über ihn veröffentlicht. Daraus geht hervor, dass viele der Eigenschaften, die auf den Bildern hervorstechen, Che bereits in seiner Kindheit ausgezeichnet haben. Martin beschreibt ihn genau so, wie wir es in unserem Fotoband tun. Nach Durchsicht der Bestände und den Gesprächen mit den Fotografen kann ich sagen: Das ist der wahre Che, nicht das entrückte Bild, das von ihm gezeichnet worden ist.

Auch die Entstehung der Bilder selbst ist interessant: Sie stammen einerseits von professionellen Fotografen, zu großen Teilen aber auch von jungen kubanischen Revolutionären, die als Laien zur Kamera griffen. Mit drei dieser Fotografen haben Sie im Rahmen Ihres Projekts gesprochen. Sie berichteten Ihnen, dass sie durch die alltägliche politische Arbeit zur Fotografie kamen …
In der Tat. Alle drei sagten, dass sie als »Militante«, also als Aktivisten zur Fotografie gekommen waren – eine Entwicklung, die übrigens in mehreren Bereichen gleichzeitig passierte, z.B. auch im Dokumentarfilmschaffen und in der Plakatkunst. Oftmals fand ihre Arbeit unter großem Mangel statt. Nicht nur personell, son-dern auch materiell, etwa weil sich Kodak am Kuba-Boykott der USA beteiligte und Filme aus anderen Ländern, u.a. der DDR, importiert werden mussten. Einer der Fotografen, mit denen wir sprachen, hatte für eines seiner Bilder einen Preis bekommen und berichtete, dass ihm da klar geworden sei, welche politische Wirkung von Bildern ausgeht. Und dass sie zwar als Laien, aber als Revolutionäre zur Kamera kamen, macht sich auch in ihrer Arbeit bemerkbar: Sie haben quasi »mitgelebt«, was Che und die Menschen bewegte, sie hatten ein Gespür für die politische Situation, in der sich das Land befand. Sie haben deshalb nicht nur den Staatsmann Che Guevara abgebildet, sondern den eigentlichen historischen Prozess, mit der enthusiastischen Beteiligung der Menschen in Kuba.

Nun überrascht es allerdings, dass die kubanischen Archive oder die Granma die Bilder nicht längst selbst veröffentlicht haben. Wie kommt es, dass Sie als ausländische Solidaritätsorganisation das nun übernehmen?
Das berührt weltpolitische Fragen, denn das hat auch mit dem Boykott Kubas, vor allem durch die USA, zu tun. Die alten Zelluloidfilme, auf denen die historischen Ereignisse festgehalten sind, werden langsam brüchig und zerfallen. Die Archive in Kuba haben jedoch weder die technischen noch die finanziellen Mittel, sie mit den heute bekannten Methoden zu konservieren. Auch hier zeigt sich die Auswirkung der weltweiten Blockade. Das betrifft Hunderttausende von Bildern. Das Beste wäre natürlich – freilich auch für die alltägliche Arbeit in den Fotoredaktionen der Zeitungen –, wenn man die alle digitalisieren könnte. Und da kommen wir ins Spiel: Die Vereinigung Schweiz-Cuba, vor allem die Züricher Sektion, ist der Granma schon etliche Jahre freundschaftlich verbunden. Der erste Computer, der in der Redaktion zum Einsatz kam, stammte aus einer Schenkung unserer Organisation. Später haben wir einen jungen Facharbeiter aus der Redaktion zu Schulungszwecken in die Schweiz eingeladen – der Kontakt hat also eine lange Tradition. Ein Teil unseres Buch-Projektes bestand eben darin, die Bilder aus den Archiven professionell zu digitalisieren und nachzubearbeiten. Die Granma hat die besagten 1200 Fotos ausgesucht, daraus haben wir wiederum eine Auswahl getroffen, die Fotografen identifiziert und die Bildlegenden erarbeitet. Von der ersten Idee bis heute war das ein zweijähriger Prozess. Perspektivisch wollen wir nun dazu beitragen, dass die Granma die weitere Digitalisierung selber bewerkstelligen kann.

Welche politische Bedeutung hat Ihre Veröffentlichung? Che Guevara als empathischer, bescheiden lebender Mensch, der den Kontakt zur einfachen Bevölkerung sucht – das passt so gar nicht in das Bild des Sozialismus, das der hiesige Mainstream zeichnet.
Richtig. Wir sind Internationalisten und grundsätzlich der Über-zeugung, dass Kuba nach wie vor und trotz aller Probleme ein sozialistisches Land ist und in allen Bereichen beweist, dass eine Alternative zum Kapitalismus möglich ist. Genau darum steht es auch im Visier der Konterrevolution, maßgeblich angeführt von der herrschenden Elite in den USA. Und darum meinen wir auch, dass es internationaler Solidarität bedarf. Die Bilder, die wir veröffentlichen, stammen ja aus einem Zeitraum, in dem durch die Formierung der nationalen Befreiungsbewegungen ein global-politischer dritter Pol entstand – unter maßgeblicher Beteiligung Kubas. Das spiegelt sich in den Empfängen mehrerer ausländischer Delegationen in Kuba, die auf den Bildern dokumentiert sind. Dazu gibt es ja bis heute eine wahnsinnige Dämonisierung Kubas und insbesondere Che Guevaras durch die westliche Propaganda. Die Erfahrung zeigt, dass der Versuch, eine Alternative zum Kapitalismus aufzubauen, nicht im neutralen Raum stattfindet, sondern mit allen Mitteln, die den Herrschenden zur Verfügung stehen, bekämpft wird – das sehen wir gegenwärtig auch in Venezuela. Unsere Fotos sollen einen Beitrag leisten, dem ver-zerrten Bild Che Guevaras, das hier verbreitet wird, etwas ent-gegenzusetzen. Man hat auch nach seiner Ermordung noch hun-dertfach versucht, ihn zu töten und sein Andenken zu unterdrücken. Aber er inspiriert bis heute Menschen in der ganzen Welt, ist Vorbild und Symbol für solche, die Widerstand gegen Kapitalismus und Imperialismus leisten. Gerade diese Leute wollen wir mit unserem Buch ansprechen.

Das kulturindustrielle Bild Che Guevaras ist wahrscheinlich das verzerrteste überhaupt: Vom Kaffeebecher bis zu Boxershorts kann man heute so ziemlich jeden Plunder mit Che-Konterfei kaufen – und leistet so einer diffusen, völlig harmlosen Anti-Haltung Vorschub. Was setzt Ihr Buch diesem apolitischen »Rebel Chic« entgegen?
Ein Mittel des Imperialismus, Widerstand zu bekämpfen, ist die Vereinnahmung alles Oppositionellen und auch kritischer Persönlichkeiten. Der Kapitalismus versucht die Begriffe der Linken inhaltlich umzudrehen und ihre Kultur zu kommerzialisieren, um sie inhaltsleer zu machen. Und tatsächlich waren es nicht die Revolutionäre in Lateinamerika, die Che zur Ikone stilisiert haben – es war der kapitalistische Westen. Wir hingegen wollen versuchen, den echten Che zu zeigen, um sein Bild und sein Wirken wieder auf die politischen Inhalte zurückzuführen. Es würde daher auch nicht schaden, sich wieder mit seinen Reden und Schriften zu befassen. Sie sind hochaktuell. Wir verweisen z. B. auf Ches Rede vor der UNO-Vollversammlung 1964 oder auf jene in Algerien. Die Bedingungen mögen gegenwärtig hart sein, aber es lohnt sich zu kämpfen und sich gemeinsam gegen Ausbeutung, kapitalistische Herrschaft und Imperialismus einzusetzen – der Impuls dazu eint noch immer zahllose junge Menschen auf der ganzen Welt, und dafür steht auch Che Guevara. Mit unserem Buch wollen wir dazu beitragen, den tatsächlichen, den revolutionären Che Guevara wieder greifbar zu machen. Daher heißt unsere Kampagne auch »Che lebt!«.

→ Das Interview mit René Lechleiter führte John Lütten

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